Vita
„wachsen, blühen und gedeihen“
Bekannt geworden durch abstrakte Übersetzungen von Landschaft, überraschte uns Birgit Brab 2014/15 durch ihre neue, umfangreiche Serie erinnern. In großformatigen, farbstarken Radierungen untersucht sie, jenseits aufdringlicher Gegenständlichkeit, allgemeingültige Architekturformen, die Typologie der schlicht eleganten Nachkriegsmoderne mit ihren knapplinigen Hochhäusern, einfachen Lochfassaden und transparenten Lichtbändern und damit die Kulisse ihres individuellen Aufwachsens. Dazu treten kleine, delikat gezeichnete Blätter mit Szenen aus ihrer Kindheit, eine hoch entwickelte Linienkunst, welche die Schauspieler zur bereiteten Bühne beisteuert. Dort transponiert die Künstlerin persönliche, der Bildwelt des privaten Familienalbums mit seinen charmant amateurhaften Schnappschüssen entnommene Situationen aus der konventionellen Ebene fotografischen Realismus in lyrische zeichnerische Interpretationen.
Birgit Brab entwirft den authentischen Bilderbogen zu Kindheit und Großwerden einer ganzen Generation. Die privaten Szenen mit stets seriös gekleideten Großeltern, familienstolzen Vätern, leicht gequälter Töchterpräsentation oder unbeschwertem Urlaubstreiben beschwören in ihrer suggerierten Vertrautheit unser kollektives Gedächtnis: Bildszenerien als sei die Zeit angehalten, alle schon hundertmal gesehen, wäre da nicht der ungewohnte Blick auf die merkwürdig vereinzelten Figuren, die fragmentarische Komposition, das weitläufige Büttenweiß — künstlerische Eingriffe, welche die bekannten Motive plötzlich fremd erscheinen lassen. Die Serie entführt den Betrachter auf eine Art Spaziergang durch Orte der jüngeren Vergangenheit und unserer individuellen Geschichte: Man startet von der eigenen Wohnung, besucht ein Kaufhaus, fährt an den Strand, um endlich auf einem der charakteristischen Freizeitbalkone Platz zu nehmen.
Birgit Brab hat ihr eigenes Werk über zwei Jahrzehnte beständig, auf höchstem künstlerischem Niveau, im Rahmen eines konzentrierten Konzepts entfaltet. Schon aus ihrer Jugend rührt das Urvertrauen in die Kunst, früh entfaltet auch durch privaten Zeichenunterricht. Weitere Grundlagen wurden während ihres Studiums 1990–97 an der Muthesius Hochschule in Kiel, einer Edelschmiede der Grafikausbildung, gelegt. Ihre Lehrer waren zwei Großmeister des Fachs: der brillante Zeichner Fritz Bauer, der zu scharfem, doch korrekturfähigem Blick erzog — wer Birgit Brab einmal bei Korrektur oder Jurysitzung erlebt hat, weiß, wie glänzend sie die künstlerische Urteilsfähigkeit kultiviert hat. Und der Prophet zeitgenössischer Grafik Ekkehard Thieme, der dazu ermutigte, eigenen Ideen Raum zu geben und visuelle Abstraktionen des Erlebten zu wagen. Die individuelle Ausdrucksform der Brabschen Arbeiten, ihre sperrige Lyrik, belegt diese geistige Nähe zum Grafiktitan Thieme. Mehrere Stipendien führten sie später in die Ferne, aus Skandinavien brachte sie uns den eindringlichen Zyklus framför mit, der durch das sichere Erfassen der monumentalen schwedischen Landschaft begeistert.
Birgit Brab ist eine Künstlerin mit vielfältigen Talenten. Seit 20 Jahren öffnet sie ihre Arbeitsräume im Rahmen mehrerer jährlicher Ausstellungen von Kollegen für ein kunstinteressiertes Publikum; sie hat Das Atelier damit zu einem wirklich bedeutenden, lebendigen Ort der Begegnung mit und dem Dialog über zeitgenössische Kunst im gesamten Land gemacht. Zudem konzipiert, druckt und veröffentlicht sie eine bildschöne Edition, die als exklusive, heute bereits 40 grafische Blätter umfassende Sammlung aus der Hand wichtiger Grafiker, Maler, Bildhauer, Material- und Fotokünstler aus Schleswig-Holstein, Köln, Berlin und Schweden auch überregional ihres Gleichen sucht.
Birgit Brab beobachtet ihre Umwelt sehr genau. Egal ob nordische Landschaft, historischer Kirchenraum, moderne Hausfassade oder neu: urbanes Stadtgrün, ihre Radierungen künden von der künstlerischen Neugier, Bühne, Umraum, Hintergrund, den Humus, des menschlichen Lebens darzustellen. Doch ist es nicht der Moment im Alltäglichen, der ihr Interesse findet, sondern die beiläufige Struktur, die sonderbare Ordnung und bemühte Variation, der zum Muster verflochtene Wildwuchs, auf unseren Bürgersteigen und Balkons, in Vorgärten, Parks und Abrisslücken, dieses widersinnige, für eine zynisch postmoderne Welt nahezu bedeutungslose Stück Natur.
Birgit Brabs Kunst zielt auf die grafische Übersetzung solcher subjektiven Erlebnisse von Wirklichkeit in neue Bildwelten. Dem Zyklus flirren liegen Eindrücke kleiner, zarter Naturphänomene zugrunde, vielleicht von fallendem Laub, aufgewirbelten Blättern vor Grünfolie oder rankendem Efeu an alten Hauswänden, denn die spezifische Melodie stiften die spontan tänzelnden Schraffuren der Kaltnadel, wobei in jedem Blatt die Summe aus verschiedenen Sehmomenten gezogen wird. Wichtig ist das Arbeiten in Serien, um innerhalb der gestifteten Bildordnung unterschiedliche Modalitäten des Naturbilds vorzustellen, das sich bei jedem Wechsel des Blickpunkts verändert.
Erfahrung von Realität meint bei Birgit Brab immer das Eingehen auf die besonderen Bedingungen der grafischen Gestaltung. Ihre Radierungen resultieren vollständig aus dem abstrakten Bestand der Fläche als Farbe, der Linie als Geste und der Form als materiellem Substrat, bestechen durch die visuelle Kostbarkeit der grafischen Oberflächen. Im Geviert der Druckplatte werden formale Äquivalente für das Naturgefüge ermittelt und in eine freie Farbigkeit übersetzt, Erfahrungen realer Räume in das breite Spektrum variierender Farbtiefe, changierender Tonwerte und die faktische Schichtung transparenter Ebenen verlagert. Nahes und Fernes wird zu einem flächigen Bildmuster zusammengezogen, so dass sich auf der optischen Anschauungs-ebene kunstvolle, nicht länger realitätsnahe Beziehungen zwischen den Formen ausbilden.
In der Serie Mehr als hält Birgit Brab das scheinbar Willkürliche städtischen Pflanzenwuchses fest, bringt das Leben einer Natur im urbanen Schatten zur Anschauung. Hier spannen sich schwere Farbbalken über das gesamte Bütten, wirft sich krustiges Carborund zu wuchtiger Formation auf — umspielt, durchzogen, unterfangen von detailliert gezeichneten Sprossen, Blättern und Blüten von suggestiver Kraft. Die Strichführung ist äußerst fein, passt sich jedoch geschmeidig den Formen an und erzielt eine reich gestufte Hell-Dunkel-Wirkung. Die Künstlerin bringt Radierung und Zeichnung auf einem Blatt in einen direkten Kontakt, verschränkt zwei unterschiedliche Bildmethoden zu einer neuen, stark narrativen Einheit, in der sie realistische, unverwechselbar getreue Pflanzenzeichnung und abstrakte, nur assoziativ erdige Leim-Aquatinta als zwei gleichberechtigte, einander hinterfragende Möglichkeiten sowohl des bildnerischen Ausdrucks als auch der visuellen Wirklichkeitsaneignung vorführt.
Die Künstlerin erinnert sich in dieser Ausstellung auch werkbiografisch, denn sie schlägt die Brücke von neusten Arbeiten zu ihren Dialogen, bemerkenswerten Blätter aus der Übergangszeit zwischen Studium und Ateliergründung. Bereits damals sucht sie nach grafischen Strukturmetaphern, die das geschaute äußere Bild mit dem intimen inneren Bild zum Ausgleich bringt, gegeben in intensiver, technisch brillanter, unbeschreiblich auratischer Flächenätzung und pastig eingespeistem Carborund. Die dort eingeführte Grundfrage nach Bestand und Gültigkeit der Form, die noch vor jedem inhaltlichen Anflug als gedruckte Gestalt funktionieren muss, ist bis heute gültig. Die Brabsche Grafik steht und wirkt einzig für sich und aus sich selbst heraus.
Jens Martin Neumann I Kunsthistoriker I Kiel